“Ich hab ne Harley in der Scheune. Ein paar Teile fehlen und sie sieht ziemlich fertig aus. Für 100 Euro kannst Du sie haben.” Äh, ja? Nehm ich!
Wer auch nur ein bisschen Ahnung hat, weiß: Für 100 Euro bekommt man keine Harley. Nicht mal ein kleines Stück Harley. Insofern war mir schon klar, dass hier irgendwas nicht stimmt. Und als der Vereinskollege dann noch mit Blick auf meine MZ meinte “Die Harley ist etwas schlanker” waren alle Hoffnungen auf einen Milwaukee-V2 dahin. Aber hey, eine Harley für 100 Euro? Da kaufe ich auch gerne die Katze im Sack.
Kleine Harley, große Enttäuschung
Ein paar Tage später stand sie hier. Ich hatte mir wenig erwartet. Aber trotzdem war ich enttäuscht. Was für ein trauriger Haufen! Und selbst wenn sie in gutem Zustand wäre, würde kein Funke bei mir überspringen. Mann, ist das ein hässliches Mofa! Ein hässliches Mofa in grottigem Zustand! Wenn es wenigstens eine 125er oder so gewesen wäre, dann hätte sie immerhin einen gewissen Nutzwert. Aber 65 Kubik? Zu wenig um damit vernünftig zu fahren, zu viel für ein Versicherungskennzeichen. Sch… Die kann man allenfalls als Deko in die Scheune hängen. 🙁
Aber nachdem die erste Enttäuschung überwunden war, habe ich nochmal genauer hingeschaut. Ein bisschen recherchiert. Ein bisschen nachgedacht. Wer weiß, vielleicht werden wir ja doch noch Freunde?
Was ist es denn nun?
Kurze Geschichtsstunde: In den späten 50ern kriselte es bei Harley heftig. Die fetten Kriegsjahre, als man riesige Mengen von Motorrädern an die US Army verkaufen konnte, waren vorbei. Die aktuellen Modelle waren technisch und optisch hoffnungslos veraltet, die Konkurrenz aus Europa und Asien zog einfach davon.
Harley Davidson suchte sein Glück in der “Diversifizierung” und kaufte sich 1960 in Italien die Motorradsparte von Aermacchi. Ebenfalls ein Traditionsunternehmen, nur dass man hier hauptsächlich kleine, leichte und günstige Alltagsmotorräder baute. 50 – 350 Kubik Einzylinder, sowohl als Zwei- und Viertakter. Damit wollte Harley in den USA und Europa neue Käuferschichten erobern.
So ganz neu war der Gedanke nicht, hatte man doch nach dem Krieg auch schon die deutsche RT 125 kopiert und als “Hummer” mehr oder weniger erfolgreich verkauft. Für die damaligen Kunden war eine kleine Zweitakt-Harley also gar nicht so exotisch, wie man heute denken könnte.
In den nächsten Jahren ließ Harley Davidson in Italien ca. 50 verschiedene Modelle fertigen. Zuerst noch unter dem Namen “Aermacchi Harley Davidson”, dann sogar direkt unter der Hauptmarke “Harley Davidson”. Diese Phase in der Firmengeschichte wird als das “AMF-Debakel” bezeichnet, weil Harley zum Mischkonzern “American Machine and Foundry” gehörte. Leider ging der Plan nicht auf, das Unternehmen aus Milwaukee rutschte weiter von Krise zu Krise und verkaufte die Reste seines italienischen Abenteuers 1978 an Cagiva.
M65 Leggero
Zurück zu “meiner” Harley: Mit vollem Namen heißt sie “Aermacchi Harley Davidson M65 Leggero”. Vielleicht auch eine M65S (“Sport”), das weiß ich nicht genau. Das Baujahr liegt zwischen 1967 und 1972.
“65” bezieht sich auf die knapp 65 Kubikzentimeter Hubraum, “Leggero” bedeutet “Leicht”. Ein kleiner, leichter Zweitakter mit schätzungsweise 1,5 PS. Komplett in Italien konstruiert und gebaut und das stärkste Modell der “Zefiretto”-Serie. Ja, richtig, es gab auch noch eine M50 mit knapp 48 Kubik. Was eigentlich die sinnvollere Variante ist, weil man sie dann als Kleinkraftrad mit AM-Führerschein und Versicherungskennzeichen fahren könnte. Die 65er ist kaum stärker, aber ein Leichtkraftrad mit allem was dazu gehört: Führerscheinklasse A1, Zulassung, Versicherung und TÜV. Na danke, auch das noch.
Schauen wir mal
Bevor ich jetzt noch mehr Worte verliere, machen wir lieber eine kleine Besichtigung und klären die Details direkt am Objekt:
Da steht sie. Augenscheinlich total vergammelt und verbastelt und es fehlen auch noch reihenweise Teile. Zuerst spingt der verblichene Lack ins Auge: Nein, das soll keine Zweifarblackierung sein. Das Moped war mal in Gänze rot. Tank, Kotflügel und Rücklicht sind aber bis auf die Grundierung verblasst. So krass habe ich das noch nie gesehen. Die Kleine muss Jahrzehnte in der prallen Sonne gestanden haben. Dafür findet sich aber erstaunlich wenig Rost. Entweder haben die Italiener sehr guten Stahl genutzt oder sehr schlechten Lack. Ich tippe auf Letzteres.
Auf der rechten Seite sieht es nicht besser aus: Verblasster Lack, Gammel und Rost. Außerdem fehlt offensichtlich der vordere Kotflügel und die beiden Seitendeckel. Moment, stimmt gar nicht! Tatsächlich gab es nie Seitendeckel. Batterie und Sicherungskasten waren ab Werk “wartungsfreundlich und leicht zugänglich montiert”, um es mal freundlich auszudrücken. Ob der Grund dafür italienisches Design oder einfach Sparsamkeit ist, muss jeder selbst entscheiden. 😉
Die Sitzbank hat’s hinter sich. Allerdings betrifft das nur den Bezug. Untendrunter ist ein Metallgestell mit Federn, die zwar rostig aber ansonsten okay sind. Wenn man wollte, könnte man sich einen neuen Bezug schneidern und draufnieten.
Der Tank hat eine sehr klassische italienische Form. Mein Fall ist das nicht, aber es gibt schlimmeres. Erstaunlich finde ich, dass die Aufkleber sich so gut gehalten haben, während der Lack bedingungslos kapituliert hat. (Hier findet sich übrigens nicht nur das “Harley Davidson”-Logo, sondern auch das vom Mutterkonzern “AMF”.)
Hier die noch stärker verblasste linke Seite.
Auf der Unterseite findet sich strahlend roter Lack, dafür aber auch ein paar echt böse Rostlöcher. Wenn die so groß sind, ist das umliegende Blech vermutlich nur noch hauchdünn. Das muss ich mir mal in Ruhe anschauen. Vielleicht könnte man das Schweißen, Löten oder sogar nur mit Kunststoff zukleistern.
Den Benzinhahn finde ich echt süß. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat er zwei getrennte Hebel: Einmal normal “Auf” und “Zu” und einmal “Reserve auf” und “Reserve zu”.
Der Tankdeckel wirkt noch am amerikanischsten: Er enthält einen Messbecher und einen Hinweis auf das Mischungsverhältnis: 3 Becher Öl pro US-Gallone Sprit.
Hinter dem Sitz findet sich noch ein Aufkleber mit den italienischen Farben “Made in Italy by Aermacchi Harley Davidson”. Das Moped ist keine Mogelpackung, es steht sehr offen zu seinen Wurzeln.
A propos offenstehen: Das Rücklichtglas fehlt leider. Und mit Verlaub: Das ist eines der hässlichsten Rücklichter, die ich jemals gesehen habe. Der Halter mit den seitlichen Reflektoren ist total klobig, formlos und macht die ganze Linie kaputt. Ganz besonders, da er auch noch in der gleichen Farbe lackiert war wie der Rest. Nun ja, vielleicht hat man das damals in den 60ern anders gesehen.
Vorne geht’s weiter: Der Tacho gefällt mir echt gut! Wie er im Scheinwerfer versenkt und mit einem breiten Gummi eingefasst ist. Etwas “ehrgeizig” finde ich, dass die Skala bis 80 Meilen geht, was ca. 128 km/h entspricht. Ich bezweifle, dass der kleine Motor auch nur die Hälfte davon erreicht.
Man beachte den niedrigen Tachostand! Sollte das gute Stück tatsächlich erst 2379 Meilen hinter sich haben?
Ein Hinweis könnten die Reifen sein: Es sind Pirellis und die Aufschrift ist italienisch (“Reinforzado”). Gut möglich, dass das noch die Originalbereifung von der Auslieferung ist.
Und auch die originale “Harley Davidson”-Zündkerze ist vermutlich noch die erste, denn sowas bekommt man nicht beim Mopedschrauber um die Ecke. Wenn der Kilometerstand also stimmt, dann dürfte der Motor noch gut in Schuss sein. Hoffentlich.
Aber zurück zum Scheinwerfer: Der war tatsächlich ab Werk schwarz lackiert und sieht aus, wie ein Scheinwerfer aus den 60ern halt so aussieht: Unspektakulär. Und das Glas ist intakt.
Beim Lenker dachte ich erst, dass da jemand einen Geländelenker nachgerüstet hat, aber auch der ist original und augenscheinlich nicht verbogen. Auch sonst gibt es keine Hinweise auf Stürze oder Unfälle. Auffällig ist der linke Griff, der wie bei einer Harley mit Zolllenker extrem dick ist. Deutlich dicker als “normale” europäische oder japanische Griffe. Erstaunlich ist das vor allem deshalb, weil es ja eben kein zölliger Lenker ist, einfach nur ein sehr dicker Griffgummi. Der rechte fehlt leider. Den wird man nicht einzeln bekommen.
Schalter, Hebel und Armaturen sind alle da, es fehlt nur der Kupplungszug.
Die italienischen Fußrasten sehen auch gut und unfallfrei aus.
Dafür hatte das Hinterrad einen “Unfall”: Das sehr kreativ befestigte Riesenkettenrad wurde vermutlich von einem jugendlichen Bastler rangeschraubt, um das Moped geländegängiger zu machen. Ich hoffe, das man das problemlos zurückrüsten kann. Nur mit den Ausschnitt im Kotflügel, der der neuen Kettenführung im Weg war, muss ich wohl leben. A propos: Der originale Kettenschutz fehlt natürlich.
Die Fußrastengummis tragen das Logo mit Stolz. Auf die Weise konnte man die Aermacchi relativ günstig auf Harley trimmen. Auch hier: Keine Schäden von Stürzen, nur normale Gebrauchsspuren.
Die Hebelei auf der linken Seite sieht interessant aus. In dem kleinen Kasten steckt eine Art “Getriebe” für den Schalthebel. Was die Röhre dahinter enthält, habe ich noch nicht verstanden.
Aber das war noch nicht alles, was am Schaltgestänge originell ist. Da ragt ein kleiner Hebel nach vorne, der fest mit dem größeren verschweißt ist. Sieht aus, als hätte es ein Dorfschmied als Provisorium rangebraten, findet sich genau so aber auch auf Fotos, die ich im Internet gefunden habe. Ich vermute, dass man hier eine Handschaltung per Bowdenzug anbringen kann. Evtl. wurde der Motor auch in einem Roller verwendet?
Hier der Motor von der rechten Seite. Nicht unbedingt hässlich. Schön luftig konstruiert, gut zugänglich, klassische Formen.
Auf der linken Seite findet sich auch nochmal der Firmenname in seiner ganzen Pracht. Der Motor lässt sich übrigens durchtreten und schalten. Ich will demnächst mal den Zylinder ziehen und den Kupplungsdeckel abnehmen.
Der Vergaser sieht relativ vollständig aus. Es fehlt nur der Luftfilter und die Aufnahme für den Gaszug. Außerdem fehlt leider das Zündschloss und der Deckel vom Sicherungskasten. Die wird man nicht ohne weiteres bekommen, aber man kann sich mit Zubehörteilen behelfen.
Der Vergaser ist wenig überraschend italienische Massenware, Ersatzteile gibt es noch heute direkt beim Hersteller.
Hier nochmal das Moped in “nackig”:
Fazit
Der Zustand ist nicht so schlecht, wie es auf den ersten Blick scheint: Keine Unfallschäden, kein schlimmer Rost und die Technik sieht eigentlich ganz okay aus. Ein paar Teile fehlen, aber da könnte man sich mit Zubehörteilen behelfen: Hupe, Zündschloss, Kotflügel, Luftfilter, Sicherungskasten, Batterie, Kette, Bowdenzüge und Griffgummis. Dazu neue Reifen und ein neu bezogener Sitz. Den Kettenschutz könnte man weglassen oder sich was dezentes aus einem Stück Blech basteln. Problematisch könnte der undichte Tank werden, aber da findet sich auch eine Lösung, wenn man denn will. Und natürlich ist der Zustand des Motors noch ungewiss. Aber da er dreht und schaltet, besteht immerhin Hoffnung.
Sollte der Motor laufen, würde es schätzungsweise 200 – 400 Euro kosten, das Ding zum Laufen zu bekommen. In einem richtig schön patinierten und technisch brauchbaren Zustand. Behaupte ich mal. 😉
Aber will ich das überhaupt?
Was nun?
Die kleine ist ein Exot, noch dazu ein irgendwie sympathischer. Eine skurrile Fußnote in der Motorradgeschichte. Nicht schön, aber selten. Die 100 Euro war sie auf jeden Fall wert. Trotzdem stellt sich die Frage: Soll ich Zeit und Geld investieren?
Was könnte ich mit der Harley denn machen, wenn sie läuft? Ich könnte damit fahren, schon klar. Aber mal im Ernst: Wer fährt mit 1,5 PS über die Landstraße, wenn er mehrere bessere Alternativen hat? In der Stadt wäre das vielleicht ganz nett, aber hier auf dem Dorf eher nicht.
Als Fahrzeug für den Nachwuchs fällt sie auch aus, weil eben kein Kleinkraftrad. Wie schon gesagt, die Höllenmaschine braucht dank 65 Kubik eine richtige Zulassung, Versicherung, TÜV etc. Das sind auch ein paar Euro im Jahr, egal ob ich damit fahre oder nicht. Und Papiere habe ich keine, die kosten auch nochmal Geld. Wenn ich sie nur als Deko an die Decke hänge, dann kann ich mir das sparen.
Es wäre natürlich auch witzig, mit dem Ding bei einem Harley-Treffen vorzufahren. Aber ob mir die paar Lacher den Aufwand wert sind?
Vielleicht könnte man sie auch gewinnbringend verkaufen? In diesem Zustand sicher nicht, aber wenn sie läuft, technisch fit ist und noch dazu mit ihrer tollen Patina? Vielleicht fände sich dann ein Harley-Fan, der sie als Exot in seiner Sammlung will? Man weiß es nicht.
Ich werde sie mal putzen und den Motor anschauen. Eigentlich ist das ein schönes Projekt für lange Winterabende. Aufhängen kann ich sie dann immer noch. 🙂